Schüchtern und mit mangelndem Selbstwert kommt in der Regel kein Mensch auf die Welt.

In den ersten Lebensjahren bilden sich über die alltäglichen Erfahrungen nach und nach die synaptischen Verbindungen im Gehirn aus denen sich schließlich die Wahrnehmung eines eigenen „ICH´s“ konzipiert.

Dieser Prozess ist jedoch vielen Erschwernissen und Störungseinflüssen unterworfen, da die umgebenden Faktoren z.B. durch Überlastung der Eltern, wenig Zeit / Verständnis / Zuwendung der Umgebung für die kindlichen Bedürfnisse etc. häufig suboptimal sind.

Genauso wie bei diesen Formen von Vernachlässigung können jedoch auch überbehütende Eltern oder Eltern mit sehr leistungsorientierten Erziehungskonzepten Einschränkungen im Selbstwertgefühl der Kinder verursachen.

In der Psychologie wurde allgemein anerkannt, dass ein Mensch ein stabiles und selbstbewusstes Ich entwickeln kann, wenn

a)    Ein stabiles verlässliches Beziehungsangebot seitens mehrerer Erwachsener (im Idealfall Eltern) besteht

b)    eine möglichst hohe Überschneidung (Deckungsgleichheit) zwischen den Empfindungen, Bedürfnissen des
eigenen Selbst und den Erfahrungen in der Aussenwelt gemacht werden können.

Da wahrscheinlich eine optimale Gestaltung der ersten Lebensjahre auch den „besten“ Eltern durchgängig kaum möglich sein wird, ist davon auszugehen, dass jeder Mensch mehr oder weniger neurotisiert ist, d.h. konflikthaft auf nicht gelöste emotionalen Verstrickungen früherer Prägeerfahrungen in der Tiefe seiner Person fixiert ist.

Das sog. „wahre Selbst“ wird in einer erlebnisgeprägten Anpassung  speziell im Laufe der ersten Lebensjahre (basierend auf der Suche nach Sicherheit und Kontrolle) immer mehr von sich selbst abrücken müssen, um die Deckungsgleichheit zwischen Selbst und Erfahrung zu erhöhen. Carl Rogers (Entwickler der klientenzentrierten Gesprächstherapie) wies im Rahmen der von ihm begründeten „Humanistischen Psychotherapie“ darauf hin, dass durch diesen lebensnotwendigen Anpassungsprozess die Gefahr eines überfremdeten Selbst gegeben ist.

Diese Entwicklung eines überfremdeten Selbst erstreckt sich schließlich auch auf die Wahrnehmung
(Wahrnehmungsverzerrungen) sowie dysfuktionale Kognitionen in Form von falschen Ursachenzuschreibungen (als Mädchen/als Junge muss man…), Ausbildung einseitiger einschränkender Glaubenssätze auf der Identitätsebene (ich bin….), auf der Zugehörigkeitseben ( nur wenn ich…., dann gehöre ich dazu). Weitere Infos zum Thema unter Ebenen der Persönlichkeit.

Als Folge eines stark überfremdeten Selbst ist die Ausprägung neurotischer Lebenshaltungen wie z.B. Ängstlichkeit, Selbstunsicherheit, Schüchternheit gut nachvollziehbar.

Kommen dazu noch entsprechend verstärkende Erlebnisse (z.B. von den älteren Geschwistern gehänselt, in der Schule ausgelacht zu werden etc.) verfestigen sich im Unterbewusstsein des Menschen einschränkende Überzeugungen (Kernglaubenssätze), die aus der Tiefe des Menschen heraus im Extremfall ein Leben lang wirken können und auf diese Weise auch hilfreiche gegensätzliche Erfolgs-Erfahrungen, die den Selbstwert stärken könnten, verhindern oder reduzieren.

So kann es geschehen, dass im Erwachsenenleben (teilweise völlig irrelevant) in bestimmten privaten oder beruflichen Situationen Empfindungen von persönlicher Schwäche und Schüchternheit erleben, die rational erst Mal nicht nachvollziehbar sind.

Bei Interesse an diesem Thema lade ich Sie zu folgendem Artikel ein: Wie kann ich meine Schüchternheit überwinden?